Die erste der beiden schneiden wir heutzutage eher zu früh als zu spät durch. Aber es gibt da eine zweite, eine mentale, die sich manchmal zwischen Eltern und Kind einrichtet, die so eigentlich nicht gedacht ist. Naturgemäss geht es meist um die Mutter-Kind-Beziehung. Oft ist diese Beziehung so intensiv und eng, dass Mütter Schmerzen, Ängste und Freuden ihrer Kinder fast so wahrnehmen, als wären es ihre eigenen. Das ist nicht unproblematisch, denn Kinder sollten in ihren Eltern eigentlich ein Korrektiv haben für ihre eigene Wahrnehmung, jemanden, der den Überblick hat und die Dinge einordnen kann. Viele Kinder spüren aber anstatt dessen die Resonanz ihrer eigenen Gefühle. Ihre Wut auf den Lehrer überträgt sich auf die Eltern, ihre Sorge um die Anerkennung in der Klasse ebenso und manchmal sogar der Liebeskummer.
Kinder haben ein Recht auf ihre eigenen Probleme und auf Eltern, die wie Felsen in der Brandung sind und die nicht mit ihnen in den Problemen untergehen.
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 27. März 2017
Zwei Nabelschnüre
Viele Eltern - besonders Mütter - verschmelzen mit den Emotionen und Gefühlen ihrer Kinder. Leiden die Kinder, leiden die Mütter in gleicher Weise mit. Das Gefühl des Kindes spiegelt sich in der Mutter und umgekehrt - es schaukelt sich auf.
Natürlich ist es unsere Aufgabe als Eltern, empathisch zu sein, das Gefühl der Kinder zu sehen und zu benennen - Kinder haben ein Recht auf ihre eigene Schwarz-Weiss-Betrachtung - aber wir sollten nicht selber von diesem Gefühl überwältigt werden.
Wir haben die Möglichkeit, andere Aspekte und Ansichten miteinzubeziehen. Wir sehen, wie die Lehrperson oder die Schulkameraden die Situation gesehen haben könnten. So können wir einem Kind helfen (zum Beispiel durch Fragen), das Geschehen richtig einzuordnen, wir können ihm Orientierung geben in einer schwierigen Welt und es trösten.
Diese Gedanken lassen sich gut auf die Beziehung zu Gott übertragen: Natürlich nimmt Gott Anteil an meinem Leben, aber er ist nicht Teil meines Problems. Er steht über der Sache, behält den Überblick und ist nicht selbst überfordert. Bei der Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist es genau gleich. Die Kinder sollen spüren: Die Eltern verstehen mein Problem, aber werden deswegen nicht aus der Bahn geworfen.
Nächsten Monat werden wir eine im Grunde ähnliche Thematik behandeln: Viele Eltern bringen es nicht über sich, Kinder «aus der Komfortzone zu schicken», weil sie selbst leiden, wenn das Kind leidet.
Fragen und Inputs
Denise: Sie reagiert selbst stark auf mobbingähnliche Szenen, obwohl sie sich zwischen fremden Menschen abspielen. Dies hat einen Zusammenhang mit ihrer eigenen Geschichte. Sie erlebt eine Art Wiederholung mit. Je besser sie die eigene Geschichte aufgearbeitet hat, desto besser kann sie in ähnlichen Situationen reagieren. Müssten erwachsene Personen nicht reagieren anstatt nur zuzusehen?
- Empathie hat den Sinn, dass wir mit anderen Menschen mitfühlen können. Das ist etwas sehr Schönes und soll nicht angeprangert werden - im Gegenteil. Es gilt, mitzuschwingen und gleichzeitig unsere integrativen Funktionen zu behalten und auch andere Aspekte noch einbeziehen zu können: Was geht in den Kindern vor, die andere mobben usw.
- Als ehemals Betroffene läuft man Gefahr, dass die eigenen alten Schmerzen auftauchen, dass man sich in der eigenen Geschichte wiederfindet. Aber wir Erwachsenen sollten vor allem die Emotionen der Kinder aufnehmen, spiegeln, den Kindern helfen, sie einzusortieren und damit umzugehen. Wenn die eigenen Gefühle aus der Erinnerung hochkommen, kann ich das nicht. Dann schaukeln sich die Gefühle - im Sinne der Resonanz - hoch.
Boris: Sohn (6) spricht respektlos: «Papi-Dummkopf, Mami-Dummkopf». Der Vater antwortet äusserlich ruhig: «Das stimmt nicht. Papi ist kein Dummkopf und fertig!», aber innerlich wird er zornig.
- Es gilt, zwei verschiedene Situationen zu unterscheiden: Unwissenheit und Respektlosigkeit.
- Weiss das Kind überhaupt, was ein Dummkopf ist? Hilfreich ist eine Erklärung, welche das Wirgefühl stärkt: «Weisst du, was du da sagst? Ich erkläre dir, was ein Dummkopf ist. Ich würde dieses Wort nie zu dir sagen. Es gibt Familien, die das Wort benutzen, aber wir möchten das nicht tun...»
- Weiss das Kind, dass es ein Unterschied ist, ob Kinder dieses Wort untereinander oder gegenüber den Eltern verwenden? Auch unter Kindern ist es nicht in Ordnung, aber dass der Vater Dummkopf genannt wird, ist ein No-Go. Jedes Kind respektiert von Natur aus ältere bzw. erwachsene Menschen. Ist ein Kind aggressiv, kann es üble Wörter verwenden. Dadurch ehrt es seine Eltern aber nicht, wie es sollte. In solchen Situationen sollte man sich überlegen, wo man dem Kind falsche Signale sendet.
- Ein letzter Gedanke - passend zum heutigen Thema: Wenn wir einem Kind eine schlechte Rückmeldung zu seinem Verhalten geben, riskieren wir, dass das Kind darunter leidet und unglücklich ist. Das dürfen und sollen wir zulassen. Kinder haben das Recht, auch mal frustriert und traurig zu sein.
Regula: Wie sollen Eltern damit umgehen, wenn einzelne Kinder - im Vergleich zu den Geschwistern - sehr viel häufiger korrigiert werden müssen?
- Warum ein Kind häufiger korrigiert werden muss als andere, kann viele Ursachen haben. Wir alle wissen: Ab einer gewissen Häufigkeit nützen Korrekturen immer weniger und man sucht besser andere Wege.
- Eine Korrektur aus dem Vorwurf bzw. der Anklage heraus löst in der Regeln nur Verteidigung und Gedanken der Abwehr aus.
- Es ist generell besser, Kinder aus der Situation herauszunehmen und unter vier Augen zu versuchen, ihre Mitarbeit und ihr Mitdenken zu gewinnen. Besonders wichtig ist es, ältere Geschwister nicht vor den Ohren der jüngeren zu korrigieren (umgekehrt ist es weniger tragisch, aber dennoch nicht hilfreich). Das löst Scham und Gegenwille aus. Je häufiger Kinder öffentlich kritisiert werden, desto krasser ist der Effekt. Je intimer und privater die Situation ist bzw. je ruhiger Eltern sind, desto eher hat die Intervention Erfolg.
Regula: Es ist nicht möglich, das Kind (10) aus der Situation herauszunehmen.
- Da die Situation nicht weiter bekannt ist, kann nur sehr allgemein auf diesen Umstand eingegangen werden: Wenn sich ein Kind nicht aus der Situation nehmen lässt, müssen wir warten.
- Solange Eltern keine Kontrolle über das Kind haben, nützt auch die Intervention nichts.
- Es sollte überlegt werden, wie solche Situationen vermieden werden könnten.
Kathrin: Die Tochter (4) hat diesen Sonntag von Gleichaltrigen das Wort «Scheisse» gelernt. Sie fand es spassig, das Wort immer und immer wieder zu gebrauchen. Sie weiss nicht, was es bedeutet.
- Eine Erklärung könnte man ähnlich handhaben wie bei Boris’ Sohn (Erklärung verbunden mit einem Wirgefühl bzw. einer Identität).
- Es gibt Wörter, die einfach Einzug in unsere Sprache halten. Früher waren Erwachsene zum Beispiel hell empört, wenn Kinder «Seich» sagten, heute ist es ein ganz normales Wort. Man muss unterscheiden können: Ein Wort, das in aller Munde ist, als unschicklich zu erklären, ist nicht ganz ohne. Man muss abwägen, ob sich ein Kampf dagegen lohnt.
- Alternativ kann man das Wort gewichten bzw. ihm den richtigen Platz zuweisen: «Das Wort ‹Scheisse › braucht man, wenn man fest frustriert ist, aber nicht alle paar Minuten. Was sollen Leute, die das tun, sagen, wenn mal wirklich etwas schlimm ist?» Es kann quasi als «Extremwaffe» geduldet werden.
- Bei Wörtern, die nicht so schlimm sind, haben manchmal selbst die Eltern gemischte Gefühle - einerseits sind sie etwas verblüfft oder lächeln darüber, wenn ein kleiner Kerl schon so ein «grosses» Wort verwendet, andererseits finden sie die Ausdrucksweise nicht ganz passend. Die Kleinen spüren dann diese heimliche Erheiterung. Kinder geniessen eine solche Form der Interaktion mit den Eltern. Meist verliert dieses Spiel mit der Zeit an Reiz.
Kathrin: Tochter (4) war den ganzen Tag mit anderen Kindern zusammen. Es wurde ihr zu viel und sie schlug zuerst ein gleichaltriges Kind, dann ein jüngeres.
- Schlagen ist ein natürlicher Ausdruck von Aggression bei unreifen Kindern, also nichts Ungewöhnliches.
- Kindern das Schlagen auszutreiben versuchen, macht keinen Sinn. Viel wichtiger ist es, dem Kind ein Ersatz-Tool anzubieten, z. B. so: «Mir ist lieber, wenn du schreist statt schlägst.»
- Dem Kind soll vermittelt werden: Wut ist normal und richtig, aber du solltest so und so darauf reagieren.
Bettina: Das Kind lügt, z. B. wenn es ums Händewaschen oder die Schule geht.
- Kleine Kinder sagen grundsätzlich die Wahrheit. Der Volksmund meint dazu: «Kinder und Narren sagen die Wahrheit.»
- Erst wenn Kinder lernen, die Konsequenzen ihrer Handlungen auf weitere Sicht hinaus abzuschätzen, dann beginnt das Lügen.
- Lügen ist auch eine Frage der Beziehung. Je vertrauensvoller die Beziehung ist, desto weniger wird das Kind versucht sein zu lügen.
- Lügen dient in den meisten Fällen dazu, Scham zu vermeiden.
- Es gibt eine Phase im Leben der Kinder, wo sie Lügen als «Problemlöser» einsetzen: Das Lügen empfinden sie weniger schlimm als das Getrenntsein von den Eltern bzw. die Vorwürfe, Beschämung oder Strafe. Kurzfristig verbessert eine Lüge deshalb scheinbar die Situation. Solche Kinder können noch nicht voraussehen, dass es auf lange Sicht schwierig ist und Konsequenzen hat.
- Besser, als mit Strafen das Lügen zu verhindern, ist es, Druck wegzunehmen und das Schuldbewusstsein der Kinder zu entwickeln. «Es ist wichtig, dass ihr zu einem Fehler steht!»
- Erst später, wenn das Schuldbewusstsein der Kinder vorhanden ist, kann eine Strafe dieses Schuldbewusstsein bedienen.