Refresher

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Refresher 21-01 «Gute Gewohnheiten - wie und wann bringen wir sie den Kindern bei?»

Gute Gewohnheiten - wie und wann bringen wir sie den Kindern bei?

Wenn dein 12-Jähriger beim Essen schmatzt, wenn seine Hand in die Schüssel greift oder beim Essen unter dem Tisch bleibt, wenn seine Schuhe überall herumliegen liegen, wenn er das Licht im WC brennen lässt, das dann seine unübersehbaren Spuren beleuchtet usw., dann hast du zwei Möglichkeiten: Entweder du findest dich damit ab und denkst zu Recht, dass man ihm das früher hätte beibringen sollen. Oder aber und das ist leider der häufigere Fall: du kritisierst ihn dauernd - ohne Wirkung - und vergiftest so die Beziehung. 

Es gibt indes eine dritte Möglichkeit, die Join-up Intervention, aber die ist heute nicht das Thema. Wenn du Vertrauenspädagogik noch nicht kennst, dann empfehle ich dir die erste Reaktion. Vielleicht hilft es deinem Sprössling bei den Tischgewohnheiten oder auch bei anderen Dingen, wenn irgendwann ein hübsches Mädchen bei seinem Verhalten die Augenbrauen hochzieht oder gar den Kopf schüttelt. Mein Bruder hat aus ähnlichen Gründen mit über sechzig mit dem Rauchen aufgehört. Du siehst, es gibt auch für jene Hoffnung, die als Kleinkinder nicht erzogen wurden... 

Viele Eltern, die einen beziehungsorientierten Erziehungsstil leben wollen, verpassen es, ihren Kindern gute Gewohnheiten beizubringen, vielleicht deshalb, weil sie die Nörgelei ihrer Mutter noch schmerzlich im Kopf haben. Bei Kleinkindern wäre es indes so einfach ihnen eine gute Beziehung zu den vielen kleinen Dingen zu vermitteln, die das Zusammenleben schön machen. Kinder zu führen und dennoch eine Herzensbeziehung mit ihnen zu pflegen, ist das Credo der Vertrauenspädagogik. Freilich, es gibt Dinge, die man einem Kleinkind nicht beibringen kann und auch nicht soll. Wenn man es versucht, richtet man mitunter grossen Schaden an: Selbstbeherrschung zum Beispiel oder Gewaltlosigkeit. Diese wunderbaren Eigenschaften gehören nicht zum Portfolio von Kleinkindern bis etwa sieben Jahren. Reifere Kinder und wir Erwachsenen tun uns ja manchmal schwer genug damit. 

Dennoch gibt es zahllose Dinge, die Kleinkinder gerne und ohne Leiden lernen können, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind. Davon handelt der Abschnitt aus dem Buch “Erziehen im Vertrauen”, das letztes Jahr in der siebten, aktualisierten Auflage herausgekommen ist. 

 

Abschnitt 4.3    Gute Gewohnheiten

Denken Sie daran, dass Ihr Kind seine Aufmerksamkeit nicht teilen kann. Alle wichtigen guten Gewohnheiten gilt es deshalb zu automatisieren. Sie können nicht davon ausgehen, dass Ihr Kind vom Kindergarten heimkommt, voller Geschichten, die es Ihnen erzählen will, und dann auch noch daran denkt, seine Schuhe an den richtigen Platz zu stellen. Entweder denkt es an die Geschichten oder an die Schuhe. Aber es gibt einen Weg: Wenn das Versorgen der Schuhe eben keine Aufmerksamkeit braucht, weil es automatisiert ist. Genauso, wie Sie Autofahren können und gleichzeitig mit dem Beifahrer ein Gespräch führen können.

Ohne die unzähligen Dinge, die wir automatisiert haben, wäre unser Leben sehr kompliziert.

Wie aber automatisiert man solche guten Gewohnheiten? Sagen Sie das mit den Schuhen, mit dem Licht im WC, mit dem Spülen usw. solange, bis es automatisiert ist. Bringen Sie Ihrem Kind früh Dinge bei, die das Zusammenleben erleichtern. Entscheidend dabei ist es, dass Sie dabei den Druck nicht erhöhen. So heisst es dann am Montag in freundlichem Ton: Versorge deine Schuhe. Am Dienstag dasselbe, am Mittwoch vielleicht: „Schau mal, deine Schuhe sind noch nicht zuhause.» Am Donnerstag: „Ich habe für dich deine Schuhe versorgt. Sie lagen ganz verloren im Gang.» usw. All das beiläufig und freundlich – so lange, bis es zur Gewohnheit geworden ist. Ihr Kind wird dann schnell selber zum Anwalt dieser Sache: „Mami, schau, Papas Schuhe sind nicht zuhause. Soll ich sie versorgen?“

Rechnen Sie damit, dass es eine Weile dauert. Rechnen Sie damit, dass Ihr Kind nicht immer gehorsam ist. Machen Sie sich nicht von seinem Gehorsam abhängig. Bleiben Sie locker, wenn das Kind seine eigenen Pläne hat und sich verzweifelt wehrt, Ihren Anweisungen zu folgen. Manchmal müssen Sie sich durchsetzen, manchmal können Sie aber auch darüber hinweggehen. Vergessen Sie es nicht: Nicht Sie brauchen das Wohlwollen Ihres Kindes, sondern umgekehrt. Kinder spüren es, wenn Eltern von ihrem guten Feedback abhängig sind. Es verwirrt sie. Vor allem haben sie ein tief verwurzeltes Verlangen, sich Ihnen als Familie anzupassen und einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Es erfüllt sie, auch dann, wenn sie sich in der aktuellen Situation dagegen auflehnen. Sie können ja nicht voraussehen, wie erfüllend es ist, wenn man fertig geweint und die Frustration überwunden hat.

Gute Gewohnheiten so zu vermitteln, ist nicht nur einfacher und nachhaltiger, sondern es bewahrt unsere Kinder davor, aus den falschen Motiven zu handeln. Bitte vergleichen Sie die folgenden zwei Szenen:

  1.     Stellen Sie sich ein Kind vor, das auf den Tisch zugeht und plötzlich Druck verspürt. Es merkt: Oh, ich habe die Hände nicht gewaschen, jetzt kommt dann gleich die kritische Frage der Mutter. Aus Gründen, die es selber nicht kennt, wartet es, bis Mama es sagt, es gibt dann kurz eine negative Rückmeldung: «Sie sind gar nicht schmutzig!» «Doch, man sieht es einfach nicht…» Schliesslich wird das Kind seine Hände waschen. Alles geht seinen Gang.

Oder aber:

  1.     Das gleiche Kind geht zum Lavabo, als die Mutter zum Essen ruft. Es fühlt sich weder unter Druck noch schlecht. Es nimmt kaum wahr, was es tut. Seine Aufmerksamkeit, die es nicht auf zwei Dinge richten kann, ist aufs Essen gerichtet. Die richtigen Magensäfte werden vorbereitet. Der Speichelfluss nimmt zu und mit ihm die Vorfreude aufs Essen.

Es gibt noch eine dritte Variante:

  1.     Das Kind geht auf den Tisch zu und fühlt plötzlich einen gewissen Druck, der dann abklingt, wenn es zum Lavabo geht und die Hände wäscht.

Als Aussenstehende haben wir keine Möglichkeit, den zweiten und den dritten Fall zu unterscheiden. Von aussen sieht es gleich aus und doch – was für ein Unterschied! Er ist viel grösser als zwischen dem ersten und dem dritten Fall.

Diesen Unterschied im Leben gibt es für Kinder an unzähligen Fronten. Ob es auf dem WC an sein Spiel denken darf und nicht sorgenvoll ans Spülen denken muss, um es ja nicht zu vergessen, prägt sein Lebensgefühl. Einmal wird es Vertrauen fassen in seine eigenen Fähigkeiten, ein andermal wird es sorgenvoll unterwegs sein, entweder dauernd bemüht, Kritik zu entgehen, oder aber gepanzert und bemüht, Beeinflussungen zu übersehen und so die eigene Freiheit zu schützen.

Wenn Sie die Kinder nach dem Konzept der Guten Gewohnheiten führen, wird es wahrscheinlich sehr schnell zurück ins Join-up finden. Wenn nicht, dann haben Sie vielleicht ein Kind mit besonderen Bedürfnissen. Dann würde ich Ihnen empfehlen, sich beraten zu lassen. Vertrauenspädagogik ist für alle Kinder hilfreich, aber sie sieht manchmal je nach Kind etwas anders aus. Insbesondere für jene Kinder, denen wir ADS oder ADHS zusprechen. Sie sehen manchmal die Welt ganz anders als wir selber. Es wäre vermessen, dieses Feld hier darstellen zu wollen. Was Sie aber wissen müssen: Ein vertrauenspädagogischer Umgang mit ihnen wird ihr Verhalten in jedem Fall positiv beeinflussen, vielleicht aber nicht so weitgehend, wie Sie es sich wünschen. Bei allem, was wir bisher betrachtet haben, möchte ich hier etwas nochmals ins helle Licht rücken:

Es fällt uns sehr schwer, Dinge zu wollen, zu denen wir gezwungen wurden. Das gilt nicht nur bei der Sexualität und den Hausaufgaben.

Dieses Wollen aber möchte ich zum Schluss dieses Abschnittes ins Zentrum stellen.

 

Hier gehts zum Podcast. 

 

Podcast des Monats


Auch dieses Mal haben wir über das Thema des Monats einen Podcast aufgenommen. Hier findest du den Podcast mit Heinz Etter.

 

 

 

Refresher 20-11 «Kleinkinder sind anders»
Refresher 21-02 «Gibt es ein Recht auf Pflichten?»

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