Refresher
Gibt es ein Recht auf Pflichten?
Es ist eine wunderbare Sache, dass es Kinderrechte gibt, wenngleich das in vielen Ländern noch nicht so bekannt zu sein scheint. Die Kinderrechte sind in unserem Land unbestritten. Niemand würde sich wünschen Kinderarbeit wieder einzuführen. Dennoch scheint es mir manchmal, als hätte man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Im Buch “Erziehen im Vertrauen” gibt es schon seit der ersten Auflage ein Kapitel: “Die gleichwürdige Gemeinschaft”, das in den Jahren seit dem Erscheinen eher noch an Brisanz gewonnen hat: Viele Kinder in unserem Land wachsen auf, werden erwachsen oder mindestens volljährig, ohne dass sie je das Gefühl gehabt hätten, einen substanziellen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten. Viele sind dazu verdammt, eine Art Gast-Dasein zu fristen. Ich nehme nicht an, dass solche jungen Menschen sich bewusst sind, dass ihnen etwas fehlt - im Gegenteil, die meisten wären vielleicht sogar empört, wenn sie darauf angesprochen würden. Es geht darum, dass Kinder nicht nur Rechte brauchen, sondern auch die Gelegenheit, sich nützlich zu machen, einen wirklichen Impact zu haben.
“Wir gehen in die Schule, das ist unsere Arbeit” habe ich auch schon gehört. Ich denke, Kinder spüren, dass das nur die halbe Wahrheit ist.
Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl, als ich zum ersten Mal einen Traktor fahren durfte. Endlich konnte ich mit den Füssen das Gaspedal erreichen und hatte gleichzeitig den Kopf über dem Lenkrad. Ich schwelgte in der Erkenntnis, dass ich jetzt eine erwachsene Person ersetzte, die stattdessen hinten Heu auf den Wagen lud oder den Rechen zog. Es war ein so erhebendes Gefühl, ein richtiger Arbeiter zu sein. Später erlebte ich Ähnliches, als mir der Grossvater das Melken beibrachte, obwohl wegen der Melkmaschinen nur noch das Anmelken nötig war, dazu aber taugten meine kleinen Hände wunderbar. Im eigenen Haushalt litt ich unter der Konkurrenz meiner grösseren Geschwister, die alle Arbeiten im Haushalt übernahmen, die von Wert waren und mir nur noch jene Arbeiten liessen, die mir minderwertig vorkamen: Sie lasen Äpfel ab, ich -auf. Konnte das eine erfüllende Tätigkeit sein? Die Grossen pflanzten - ich jätete. Diese missliche Lage - in unheiliger Allianz mit meiner Bequemlichkeit - hinterliess in mir ein Gefühl von Minderwert, das durch gute Schulleistungen nur zum kleinen Teil aufgehoben wurde.Darüber hinaus lernte ich auch vieles nicht, traute mir immer weniger zu, sodass ich erwachsen werden musste um wirklich zu glauben, dass ich nicht zwei linke Hände habe. Noch heute aber muss ich mir immer gut zureden, wenn es darum geht praktische Arbeiten anzupacken.
Also: Gib deinen Kindern die Chance nützlich zu sein. Spanne sie ein, auch wenn deren Bequemlichkeit manchmal dagegen spricht und du manchmal schneller wärest ohne ihre Hilfe. Es lohnt sich. Im Kapitel “Die gleichwürdige Gemeinschaft” findest du hilfreiche Gedanken zum Thema.
Ich lade dich ein, im Podcast das Interview mit Claudia Feierabend zu hören, die nicht nur eine tüchtige Sekretärin ist, sondern auch engagiert im Team mitarbeitet.
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Podcast des Monats
Auch dieses Mal haben wir über das Thema des Monats einen Podcast aufgenommen. Hier findest du den Podcast mit Heinz Etter.
Gute Gewohnheiten - wie und wann bringen wir sie den Kindern bei?
Wenn dein 12-Jähriger beim Essen schmatzt, wenn seine Hand in die Schüssel greift oder beim Essen unter dem Tisch bleibt, wenn seine Schuhe überall herumliegen liegen, wenn er das Licht im WC brennen lässt, das dann seine unübersehbaren Spuren beleuchtet usw., dann hast du zwei Möglichkeiten: Entweder du findest dich damit ab und denkst zu Recht, dass man ihm das früher hätte beibringen sollen. Oder aber und das ist leider der häufigere Fall: du kritisierst ihn dauernd - ohne Wirkung - und vergiftest so die Beziehung.
Es gibt indes eine dritte Möglichkeit, die Join-up Intervention, aber die ist heute nicht das Thema. Wenn du Vertrauenspädagogik noch nicht kennst, dann empfehle ich dir die erste Reaktion. Vielleicht hilft es deinem Sprössling bei den Tischgewohnheiten oder auch bei anderen Dingen, wenn irgendwann ein hübsches Mädchen bei seinem Verhalten die Augenbrauen hochzieht oder gar den Kopf schüttelt. Mein Bruder hat aus ähnlichen Gründen mit über sechzig mit dem Rauchen aufgehört. Du siehst, es gibt auch für jene Hoffnung, die als Kleinkinder nicht erzogen wurden...
Viele Eltern, die einen beziehungsorientierten Erziehungsstil leben wollen, verpassen es, ihren Kindern gute Gewohnheiten beizubringen, vielleicht deshalb, weil sie die Nörgelei ihrer Mutter noch schmerzlich im Kopf haben. Bei Kleinkindern wäre es indes so einfach ihnen eine gute Beziehung zu den vielen kleinen Dingen zu vermitteln, die das Zusammenleben schön machen. Kinder zu führen und dennoch eine Herzensbeziehung mit ihnen zu pflegen, ist das Credo der Vertrauenspädagogik. Freilich, es gibt Dinge, die man einem Kleinkind nicht beibringen kann und auch nicht soll. Wenn man es versucht, richtet man mitunter grossen Schaden an: Selbstbeherrschung zum Beispiel oder Gewaltlosigkeit. Diese wunderbaren Eigenschaften gehören nicht zum Portfolio von Kleinkindern bis etwa sieben Jahren. Reifere Kinder und wir Erwachsenen tun uns ja manchmal schwer genug damit.
Dennoch gibt es zahllose Dinge, die Kleinkinder gerne und ohne Leiden lernen können, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind. Davon handelt der Abschnitt aus dem Buch “Erziehen im Vertrauen”, das letztes Jahr in der siebten, aktualisierten Auflage herausgekommen ist.
Abschnitt 4.3 Gute Gewohnheiten
Denken Sie daran, dass Ihr Kind seine Aufmerksamkeit nicht teilen kann. Alle wichtigen guten Gewohnheiten gilt es deshalb zu automatisieren. Sie können nicht davon ausgehen, dass Ihr Kind vom Kindergarten heimkommt, voller Geschichten, die es Ihnen erzählen will, und dann auch noch daran denkt, seine Schuhe an den richtigen Platz zu stellen. Entweder denkt es an die Geschichten oder an die Schuhe. Aber es gibt einen Weg: Wenn das Versorgen der Schuhe eben keine Aufmerksamkeit braucht, weil es automatisiert ist. Genauso, wie Sie Autofahren können und gleichzeitig mit dem Beifahrer ein Gespräch führen können.
Ohne die unzähligen Dinge, die wir automatisiert haben, wäre unser Leben sehr kompliziert.
Wie aber automatisiert man solche guten Gewohnheiten? Sagen Sie das mit den Schuhen, mit dem Licht im WC, mit dem Spülen usw. solange, bis es automatisiert ist. Bringen Sie Ihrem Kind früh Dinge bei, die das Zusammenleben erleichtern. Entscheidend dabei ist es, dass Sie dabei den Druck nicht erhöhen. So heisst es dann am Montag in freundlichem Ton: Versorge deine Schuhe. Am Dienstag dasselbe, am Mittwoch vielleicht: „Schau mal, deine Schuhe sind noch nicht zuhause.» Am Donnerstag: „Ich habe für dich deine Schuhe versorgt. Sie lagen ganz verloren im Gang.» usw. All das beiläufig und freundlich – so lange, bis es zur Gewohnheit geworden ist. Ihr Kind wird dann schnell selber zum Anwalt dieser Sache: „Mami, schau, Papas Schuhe sind nicht zuhause. Soll ich sie versorgen?“
Rechnen Sie damit, dass es eine Weile dauert. Rechnen Sie damit, dass Ihr Kind nicht immer gehorsam ist. Machen Sie sich nicht von seinem Gehorsam abhängig. Bleiben Sie locker, wenn das Kind seine eigenen Pläne hat und sich verzweifelt wehrt, Ihren Anweisungen zu folgen. Manchmal müssen Sie sich durchsetzen, manchmal können Sie aber auch darüber hinweggehen. Vergessen Sie es nicht: Nicht Sie brauchen das Wohlwollen Ihres Kindes, sondern umgekehrt. Kinder spüren es, wenn Eltern von ihrem guten Feedback abhängig sind. Es verwirrt sie. Vor allem haben sie ein tief verwurzeltes Verlangen, sich Ihnen als Familie anzupassen und einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Es erfüllt sie, auch dann, wenn sie sich in der aktuellen Situation dagegen auflehnen. Sie können ja nicht voraussehen, wie erfüllend es ist, wenn man fertig geweint und die Frustration überwunden hat.
Gute Gewohnheiten so zu vermitteln, ist nicht nur einfacher und nachhaltiger, sondern es bewahrt unsere Kinder davor, aus den falschen Motiven zu handeln. Bitte vergleichen Sie die folgenden zwei Szenen:
- Stellen Sie sich ein Kind vor, das auf den Tisch zugeht und plötzlich Druck verspürt. Es merkt: Oh, ich habe die Hände nicht gewaschen, jetzt kommt dann gleich die kritische Frage der Mutter. Aus Gründen, die es selber nicht kennt, wartet es, bis Mama es sagt, es gibt dann kurz eine negative Rückmeldung: «Sie sind gar nicht schmutzig!» «Doch, man sieht es einfach nicht…» Schliesslich wird das Kind seine Hände waschen. Alles geht seinen Gang.
Oder aber:
- Das gleiche Kind geht zum Lavabo, als die Mutter zum Essen ruft. Es fühlt sich weder unter Druck noch schlecht. Es nimmt kaum wahr, was es tut. Seine Aufmerksamkeit, die es nicht auf zwei Dinge richten kann, ist aufs Essen gerichtet. Die richtigen Magensäfte werden vorbereitet. Der Speichelfluss nimmt zu und mit ihm die Vorfreude aufs Essen.
Es gibt noch eine dritte Variante:
- Das Kind geht auf den Tisch zu und fühlt plötzlich einen gewissen Druck, der dann abklingt, wenn es zum Lavabo geht und die Hände wäscht.
Als Aussenstehende haben wir keine Möglichkeit, den zweiten und den dritten Fall zu unterscheiden. Von aussen sieht es gleich aus und doch – was für ein Unterschied! Er ist viel grösser als zwischen dem ersten und dem dritten Fall.
Diesen Unterschied im Leben gibt es für Kinder an unzähligen Fronten. Ob es auf dem WC an sein Spiel denken darf und nicht sorgenvoll ans Spülen denken muss, um es ja nicht zu vergessen, prägt sein Lebensgefühl. Einmal wird es Vertrauen fassen in seine eigenen Fähigkeiten, ein andermal wird es sorgenvoll unterwegs sein, entweder dauernd bemüht, Kritik zu entgehen, oder aber gepanzert und bemüht, Beeinflussungen zu übersehen und so die eigene Freiheit zu schützen.
Wenn Sie die Kinder nach dem Konzept der Guten Gewohnheiten führen, wird es wahrscheinlich sehr schnell zurück ins Join-up finden. Wenn nicht, dann haben Sie vielleicht ein Kind mit besonderen Bedürfnissen. Dann würde ich Ihnen empfehlen, sich beraten zu lassen. Vertrauenspädagogik ist für alle Kinder hilfreich, aber sie sieht manchmal je nach Kind etwas anders aus. Insbesondere für jene Kinder, denen wir ADS oder ADHS zusprechen. Sie sehen manchmal die Welt ganz anders als wir selber. Es wäre vermessen, dieses Feld hier darstellen zu wollen. Was Sie aber wissen müssen: Ein vertrauenspädagogischer Umgang mit ihnen wird ihr Verhalten in jedem Fall positiv beeinflussen, vielleicht aber nicht so weitgehend, wie Sie es sich wünschen. Bei allem, was wir bisher betrachtet haben, möchte ich hier etwas nochmals ins helle Licht rücken:
Es fällt uns sehr schwer, Dinge zu wollen, zu denen wir gezwungen wurden. Das gilt nicht nur bei der Sexualität und den Hausaufgaben.
Dieses Wollen aber möchte ich zum Schluss dieses Abschnittes ins Zentrum stellen.
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Podcast des Monats
Auch dieses Mal haben wir über das Thema des Monats einen Podcast aufgenommen. Hier findest du den Podcast mit Heinz Etter.
Hast du schon einmal versucht aus unreifen Äpfeln Apfelmus zu machen? Ich schon, und es geht. Man kann unreife Äpfel genauso bearbeiten wie reife. Alle Prozesse sind ähnlich. Das Problem ist einzig, dass am Schluss das Apfelmus nicht so schmeckt wie es sollte. Meines war sogar leicht klebrig.
Ich hätte auf meine Frau hören sollen, die mir sagte, die Äpfel seien noch zu wenig reif. Ich dachte, es gehe schon, wenn man ein bisschen Xylit dazugebe.
Wenn man mit unreifen Äpfeln Dinge tut, die man nur mit reifen tun sollte, dann ist das ein kleines Problem. Anders ist es, wenn wir mit unreifen Kindern so umgehen, wie es für reife Kinder angemessen ist - und umgekehrt. Das passiert uns in unserer Kultur in grosser Regelmässigkeit.
Den Begriff Reifung für Menschen zu gebrauchen ist nicht üblich. Das ist schade, denn auch Menschen reifen. Unreife Kinder - Kleinkinder bis etwa zu jenem Alter, in dem früher die Schule begann - fühlen sich besser, wenn sie mit älteren oder jüngeren Kindern spielen können. Sie haben auch sonst Eigenschaften, die man kennen sollte, um ihnen gerecht zu werden. Der Start ins Leben ist für einen Menschen entscheidend. Er wirkt sich auf das ganze Leben aus - und sogar aufs Sterben. Ihren besonderen Eigenschaften und Bedürfnissen gilt unser Buch “Vertrauen von Anfang an”, das du in unserem Shop findest. So quasi als Vorgeschmack habe ich in der 7. Auflage des Buches “Erziehen im Vertrauen” den Abschnitt “Kleinkinder sind anders”.aufgenommen:
3.7 Kleinkinder sind anders
Das Join-up-Konzept ist eine Art, miteinander umzugehen, die im Grunde sämtliche Beziehungen umfasst. Es ist hilfreich, wenn ein Mitarbeiter mit seinem Chef, ein Schüler mit dem Lehrer und die Bewohnerin mit dem Pflegepersonal im Join-up ist. Die Grundregeln der Führung können für alle leicht angepasst werden.
Nur für eine Personengruppe ist es nicht so einfach: für die Kleinkinder, für Kinder also zwischen null und fünf bis sieben Jahren. Gut, dass sie bereits im Join-up zur Welt kommen. Wenn wir sie von innen her verstehen, dann werden sie im Normalfall im Join-up bleiben, was nicht heissen will, dass sie sich immer kooperativ verhalten. Da kann es vorkommen, dass Kinder erbittert um ein Spielzeug streiten, dass sie einander beissen und kratzen, sich Anordnungen widersetzen und dergleichen. Meist liegt das dann nicht an diesen Kindern, sondern an den widrigen Umständen, in die sie geraten sind. Sie haben nämlich einige ganz besondere Eigenschaften, die sie für bestimmte Situationen gänzlich ungeeignet machen:
Sie haben ein Gehirn, das man – zumindest im Jahre 2020 – gut mit einem Smartphone vergleichen kann. Ein solches Gerät kann fast alles, was ein Laptop kann, und sogar noch einiges dazu, wie z. B. telefonieren und navigieren. Aber obwohl viele Prozesse im Hintergrund gleichzeitig laufen, ist auf dem Display nur einer zu sehen, während der Bildschirm des Laptops verschiedene Prozesse gleichzeitig darstellen kann. Wenn ich also den Smartphone-Fahrplan studiere, kann ich den Bildschirm nicht mit meiner Nachrichten-App teilen, um meiner Frau die Ankunftszeit mitzuteilen. Ich muss den Fahrplan schliessen; dann erst kann es weitergehen. So ungefähr funktioniert das Bewusstsein eines Kleinkindes. Es kann nur einen Gedankengang gleichzeitig bearbeiten. Sie kennen deshalb auch keine inneren Konflikte: Sie werden nie ein vierjähriges Kind hören, das sagt: «Ich bin hin- und hergerissen. Ich möchte mit Mami einkaufen gehen, aber auch hierbleiben und Lego spielen.» Sie wollen entweder das eine oder das andere. Kleine Kinder können ihre Gefühle nicht mischen wie ältere Kinder und wir Erwachsenen. Wir können mehrere Gefühle gleichzeitig wahrnehmen. Das heisst, dass wenn wir jemanden sehen, der uns unsympathisch ist, wir ihn gleichwohl grüssen können, einfach, weil wir neben der Antipathie auch die Würde des Gegenübers im Auge haben können. Wenn uns jemand wütend macht, können wir gleichzeitig wahrnehmen, dass wir einander auch gernhaben. Daraus ergibt sich ein anderes Verhalten als bei kleinen Kindern. Diese sind manchmal sehr direkt...
Kleine Kinder erleben ihre Gefühle nacheinander, nicht gleichzeitig. Ihre Gefühle gleichen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind rein und ungemildert: ihr Zorn, ihre Trauer, ihre Fürsorglichkeit und ihr Verlangen. Kleinkinder können sich ohne weiteres um acht Uhr liebkosen und um fünf nach acht erbittert streiten, um sich um zehn nach acht wieder zu vertragen.
Wenn sie lieben, lieben sie ganz, wenn sie zornig sind, sind sie auch das ganz.
Kleinkinder leben im Augenblick. Wenn wir mit ihnen am Mittag Abmachungen treffen, haben diese am Abend keine Relevanz mehr. «Du hast heute Mittag gesagt, dass du freiwillig früh zu Bett gehst, wenn du keinen Mittagschlaf machen musst.» Ein solcher Satz wird bei einem Dreijährigen Unverständnis und Verzweiflung auslösen, aber kaum ein «Aha, stimmt, das habe ich versprochen.»
Kleinkinder sind egozentrisch – nicht, weil das ein übler Charakterzug wäre, sondern einfach deshalb, weil ihr Gehirn zu einer Zeit nur einen Standpunkt, eine Perspektive verarbeiten kann. Kleinkinder sind deshalb nicht empathisch. Sie sind zwar mitunter sehr fürsorglich und würden für den schreienden Bruder alles tun und geben, aber sie würden dabei die eigenen Bedürfnisse aus den Augen verlieren. Beim Telefonieren mit einem Kleinkind kommt es regelmässig zu lustigen Szenen wie dieser: «Schau, Bipapi, das habe ich heute gezeichnet.» Das Kind zeigt begeistert auf seine Zeichnung und denkt nicht daran, dass die Person am anderen Ende diese nicht sehen kann. Dabei weiss ein dreijähriges das eigentlich wohl. Aber es kann einfach nicht beide Sichten der Welt, seine und die der anderen, gleichzeitig im Kopf haben.
Kleinkinder können aus dem gleichen Grund auch nicht tricksen bzw. andere täuschen. Es ist ein Akt der Reifung, wenn sie mit solchen Manövern mit vier oder fünf Jahren anfangen. Erwachsene durchschauen diese meist sehr schnell. Es ist für Kleinkinder sogar sehr schwierig bis unmöglich, ihre Spielkarten so in die Hand zu nehmen, dass andere sie nicht sehen können. Ironie und Täuschungsmanöver setzen ein Mindestmass an Einfühlungsvermögen voraus. Umso tragischer ist es, wenn Eltern ein solches sogar ihren Babys unterstellen.
Zum Glück starten sie im Join-up und lassen sich von einfühlsamen Eltern auch einigermassen führen, solange diese nicht auf die Idee kommen, Kleinkinder kontrollieren zu wollen. Sie sind glücklicherweise auch klein und leicht genug, dass man sie im Bedarfsfall mit einem entschuldigenden «Oh, tut mir leid, aber jetzt muss ich dich ins Auto tragen, auch wenn dir das nicht passt.» unter den Arm nehmen kann.
Kleinkinder sind oft nur deshalb tragbar, weil sie „tragbar“ sind.
Wie aber soll man denn solche Kinder führen? Viele Eltern tun das, indem sie Kleinkinder einschüchtern bzw. alarmieren. Sie schlagen ihnen auf die Finger, wenn sie sich der Herdplatte nähern oder rufen ganz laut «Nein!», wenn das Kind wieder einmal den Stop-Knopf auf der Fernsteuerung drücken will – obwohl die Tagesschau ja tatsächlich eine Störung darstellt… Das funktioniert meist nur so lange, als die Drohung aufrecht ist. Vielleicht bleibt die Erfahrung nach den Regeln der Konditionierung auch haften. Oft aber pflanzen wir ungewollt den Gegenwillen ins kindliche Herz. Was wir in drohendem Ton – als Gegner gewissermassen – verbieten, wird im Kopf des Kindes als «erstrebenswert, aber gefährlich» notiert. Sie haben das sicher schon selber beobachtet, wie ein drohendes «Fasse ja diese Schere nicht an!» eine Kinderhand fast magisch zur Schere hinzieht und wie manchmal selbst eine Warnung nichts mehr nützt.
Hilfreicher ist es, wenn wir – für das Kind spürbar – auf seiner Seite bleiben und mit seinen positiven Gefühlen arbeiten.
Das könnte sich dann etwa so anhören. «Uiuiui, diese Schere ist gefährlich. Schau einmal, wie die pikst. Die muss auf dem Tisch bleiben, sonst tut sie dir weh.» Was haben wir gemacht? Wir haben die Fürsorglichkeit des Kindes angesprochen. Fürsorglichkeit ist Kindern angeboren. Sie ist wie eine Art Vorwegnahme der späteren Möglichkeit, sich in andere einzufühlen. Man kann die Fürsorglichkeit auch gegenüber kostbaren Dingen wecken, wenngleich es manchmal doch sinnvoller ist, sie aus der Reichweite von Kindern zu entfernen.
Kleinkinder können schlecht mit Gleichaltrigen spielen, obwohl sie sich zu ihnen hingezogen fühlen. Sie sind dafür geschaffen, mit älteren oder jüngeren Geschwistern umzugehen. Erst mit etwa sieben Jahren entwickeln sie die Möglichkeit der Einfühlung und der Empathie, die für das Zusammenwirken mit anderen so wichtig ist. Es erstaunt deshalb nicht, dass vor der Einführung des Kindergarten-Obligatoriums die Einschulung ungefähr in diesem Alter erfolgte. Wir haben in unserer Zeit das Gefühl für diese notwendigen Reifungsprozesse verloren und leben in der seltsamen Vorstellung, dass es sich hier um Lernprozesse handelt. Und es stimmt – man kann Kleinkinder zum Zusammenwirken, zur Rücksichtnahme und zum Teilen erziehen, aber nur dadurch, dass sie sich viele Male falsch vorkommen und an sich selber zweifeln müssen. Sie haben diese Art der Gemeinschaft nicht im Gefühl – noch nicht, um genau zu sein. Kinder entwickeln diese Fähigkeit spontan, sobald sie empathisch sind, auch ohne die Einwirkung von Erwachsenen. Kleinkinder sind darauf angelegt, in Hierarchien zu leben, sich also entweder bei einem älteren Kind anzulehnen oder aber ein jüngeres Kind anzuleiten. Je mehr wir uns als Eltern bewusst sind, dass Kinder immer Hierarchien bilden, gerade auch im Rollenspiel, desto weniger werden wir uns wundern, wenn gleichaltrige Kleinkinder schnell in Konflikte geraten und Mühe haben, ihr Spielzeug zu teilen. Ich schliesse mit einem leicht abgeänderten Sprichwort:
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans dann sehr wohl.
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Podcast des Monats
Auch dieses Mal haben wir über das Thema des Monats einen Podcast aufgenommen. Hier findest du den Podcast mit Heinz Etter.
“Mama, hol mir ein Yoghurt!” Wie tönt das für dich? Komisch? Vielleicht auch nicht, vielleicht hast du dich daran gewöhnt, dass deine Kinder dir sagen, was du zu tun hast. Vielleicht wehrst du dich manchmal und sagst dann: “Hey, nicht in diesem Ton, bitte!”
Menschliche Gemeinschaft bilden Rangordnungen - genau gleich, wie es soziale Tiere tun. Schulklassen tun das, Familien, Vereinsvorstände - kurz, alle Gruppen, wo Menschen zusammenwirken. In Demokratien wählen wir Menschen an der Urne jene Leute, denen wir Einfluss auf unser Leben zugestehen bzw. auf das Leben unserer Mitmenschen...
In unserer wichtigsten Gemeinschaft - in der Familie - ist die Rangordnung allerdings oft unklar oder sogar verkehrt, ohne dass das jemandem auffällt.
Diesem Umstand habe ich in der siebten Auflage des Buches ein Kapitelchen gewidmet, hier der erste Abschnitt:
2.1 Das Join-up-Gitter
Wir alle spüren es sofort: Wenn sich ein Kind vor uns aufbaut und im Befehlston etwas einfordert, dann stimmt etwas nicht und wir fühlen uns berufen, das Kind in die Schranken zu weisen. Haben Sie sich auch schon darüber Gedanken gemacht, dass es genauso unangebracht ist, dass Sie sich als Mama oder Papa nicht getrauen, Ihrem Kind etwas zu befehlen? Wir Erwachsenen tun uns vielmehr ganz schwer mit Sätzen wie «Hole noch Mineralwasser aus dem Keller!» Wir sagen lieber: «Würdest du bitte Mineralwasser aus dem Keller holen?» Nachdem das eine höfliche Frage ist, sollten wir eigentlich bereit sein, ein Nein des Kindes zu akzeptieren. Diese Art der Formulierung gehört eigentlich zur Sprechweise jener, die sich unterordnen, weil sie sich bedürftig und abhängig fühlen wie jemand, der auf der Strasse nach dem Weg fragt. Niemand würde dort ja sagen: «Zeigen Sie mir den Weg zum Bahnhof!» Nein, wir würden uns ohne schlechte Gefühle unterordnen und darauf hoffen, dass wir im Gegenüber fürsorgliche Gefühle auslösen, die ihn dazu bringen, sich für uns einen Moment Zeit zu nehmen. Als Eltern benutzen wir diese Formulierung oft missbräuchlich, denn wir fragen in Wirklichkeit gar nicht, sondern wir wollen nur liebevoller befehlen, als es unsere Eltern und Lehrkräfte damals taten. Den wenigsten wird es bewusst sein, dass elterliche Unterordnung Kinder verwirrt, vor allem dann, wenn die Eltern frustriert auf ein Nein des Kindes reagieren, Vorwürfe machen oder gar drohen, wenn ein Kind eine höfliche Anfrage als solche wahrnimmt. Gerade kleine Kinder tun sich sehr schwer mit dem Interpretieren von verklausulierten Botschaften.
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Podcast des Monats
Auch dieses Mal haben wir über das Thema des Monats einen Podcast aufgenommen. Hier findest du den Podcast mit Heinz Etter.
Wir haben uns im letzten Monat damit beschäftigt, wie gefährlich und schädlich es ist, die Liebe und Anhänglichkeit der Kinder dazu zu nutzen, sie gefügig zu machen. Du kennst vielleicht Sätze wie: “Jetzt kommst du schon wieder aus dem Zimmer, wenn du nochmals herauskommst….” Dabei kann ein Kind, das gesund ist und in Kontakt ist mit seinen Gefühlen, nur ganz schlecht einschlafen, wenn die Beziehung mit den Eltern nicht geklärt ist. So wird es irgendwann wieder aufstehen, um zu spüren, ob der Zorn der Eltern vorbei sei und die Stimmung wieder besser. Schön ist es, wenn Eltern das erkennen und nicht noch mehr Druck machen.
Manche Kinder entwickeln eine eigentliche Trennungsproblematik. Eine Verhaltensweise aus dieser Problematik heraus kennen wir alle: das Klammern. Wenn wir dann sagen: “Kannst du nicht einmal etwas für dich spielen…. dann wird sich das Problem dadurch eher verschärfen als lösen. Manchmal entwickeln Kinder ein Verhalten, dem ich im Buch einen kleinen Abschnitt gewidmet habe.
3.6 Defensive Dominanz
1 Defensive Dominanz - Leiterschaft, die aus der Angst kommt
Wenn Kinder zu oft mit einer Trennung konfrontiert werden – gleichgültig, ob sie real ist oder nur im Kopf des Kindes existiert –, reagieren sie auf eine typische Weise. Sie suchen zunächst die Nähe der Eltern bzw. der Bezugspersonen. Sie tun das so fordernd, so unersättlich, dass Eltern auf dieses Klammern meist mit Abwehr reagieren. Diese Zurückweisung freilich verstärkt das Trennungsgefühl. Ein Teufelskreis beginnt. Er endet nicht selten in einem Dominanzverhalten des Kindes. Irgendeine Instanz im Bindungsgehirn des Kindes sagt ihm: «Die anderen Menschen halten nicht an dir fest. Sie lassen dich im Stich. Sie wollen dich nicht. Es bleibt dir nichts, als selber die Führung zu übernehmen, sonst bist du verloren.» Die Folge ist eine Hierarchie-Umkehr, die so umfassend sein kann, dass Befehle der Eltern im Kind Frustration und Aggression auslösen und ebenso deren scheinbarer «Ungehorsam», wenn die Eltern nicht bereit sind zu tun, was das Kind fordert. Je mehr sich Eltern wehren, desto schlimmer kann es für das Kind werden. Wenn Sie bei ihrem Kind so etwas vermuten, lohnt es sich, Beratung in Anspruch zu nehmen. Ich deute hier nur an, welchen Weg ich mit meinen Klienten schon sehr oft gegangen bin (und greife dem nächsten Kapitel der Dringlichkeit wegen etwas vor):
Zunächst geht es darum, dem Kind mehr Nähe zu geben, als es verlangt.
«Das ist unmöglich!» rufen Eltern in der Regel an dieser Stelle aus. Aber meist finden wir einen Weg dahin. Vor allem geht es dann darum, schneller zu sein. Das Ziel muss es sein, dass die Eltern das Kind so lange und so intensiv nahe halten, dass dasselbe Bindungsgehirn den Umkehrschluss zieht und dem Kind sagt: Deine Eltern halten an dir fest. Sie wollen dich in ihrer Nähe haben, du bist bei ihnen willkommen. Sie sorgen dafür, dass du nicht verloren gehst. Ein solcher Prozess löst fast unglaubliche Veränderungen im Kind aus. Meist normalisieren sich Kinder vollständig. Aber der Aufwand sprengt den Rahmen der normalen elterlichen Betreuung deutlich. Es lohnt sich deshalb doppelt, Kinder nicht unnötig einer Trennung auszusetzen. Trennungsstrafen sind eine häufige Ursache und, weil sie oft regelmässig verhängt werden, die häufigste Ursache defensiver Dominanz. Klammern hingegen kann auch durch traumatische Ereignisse wie dem Verlust geliebter Personen oder Tiere ausgelöst werden.
Soweit der Abschnitt aus dem Buch.
Für uns als Erziehungspersonen gibt es übrigens ein ähnliches Phänomen. Auch wir können in den Zustand kommen, wo wir klammern, wo wir den kindlichen Gehorsam durchsetzen einfach deshalb, weil wir Angst haben sie könnten uns entgleiten. Dann ist es wichtig, dass wir uns der Frage stellen, ob es jetzt noch ums Kind geht oder um unsere eigene Not, der Angst, nicht mehr gebraucht, nicht mehr gefragt zu sein. Kinder reagieren meist sehr negativ auf diese Art Leiterschaft. Wenn wir sie zwingen sich freizustrampeln wird das allen Beteiligten wehtun.
Es kann aber auch viel oberflächlicher sein: Wenn du dein Kind unter Druck setzt oder ihm etwas verbietest, einzig aus der Angst, bei Nachbarn und Freunden weniger angesehen zu sein oder gar kritisiert zu werden. Viele Eltern, Lehrkräfte und auch Trainer in Sportvereinen fürchten sich davor, wegen Missachtung der Aufsichtspflicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn etwas passiert. Wie schnell geraten wir da in eine Leiterschaft, die von der Angst für uns selber geprägt ist, anstatt aus der Sorge um das Wohl der uns Anvertrauten. Kinder brauchen das Risiko um ihre Grenzen auszuloten. Hindere sie deshalb nicht aus Angst vor der nachbarschaftlichen Kritik auf Bäume zu klettern, auf Mäuerchen zu balancieren oder durch Bäche zu waten oder auch weil die Angst deiner eigenen Mutter noch in dir steckt. In der Einstein-Sendung “Die Macht des Spielens” des Schweizer Fernsehens wird das eindrücklich dargestellt.
Manchmal verbieten wir Dinge aber auch aus ehrlicher Rücksicht - dann zum Beispiel, wenn dein Kind die Idee hat morgens um sechs Klavier zu spielen, wenn andere schlafen. Von aussen sieht man oft nicht, was uns antreibt, dies oder jenes zu tun oder zu lassen. Lasst uns deshalb achtsam sein, dass es immer mehr die Liebe ist, die uns leitet. Die Liebe zu unseren Kindern, zu uns selbst - und auch zu unseren Nachbarn.
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Podcast des Monats
Auch dieses Mal haben wir über das Thema des Monats einen Podcast aufgenommen. Hier findest du den Podcast mit Heinz Etter.
Ein solcher Satz heisst doch eigentlich: «Ich habe das nicht liegen gelassen, also muss ich es auch nicht auflesen. Wenn du mich aufforderst, es aufzuheben, dann heisst das ja wohl, dass du denkst, ich hätte das verschuldet.»
Diese Denkweise ist tief in uns verankert. Es gibt allerdings eine gewichtige Ausnahme: Mütter verbringen ein Grossteil ihrer Zeit damit zu, die Suppen anderer auszulöffeln. Was sie zusammensaugen oder -wischen, was sie waschen oder flicken ist ja meist nicht ihre «Saat», um das gleiche Prinzip im biblischen Bild zu zitieren: Das Prinzip von Saat und Ernte. Wenn wir dieses Prinzip hochhalten, dann müssen wir auch die Antwort dieses Kindes als die einzig richtige anerkennen. Jesus nat neben diesem Prinzip allerdings ein anderes eingeführt, das dem gesunden Menschenverstand vielleicht eher fremd ist. Johannes 4:37 spricht davon, dass die einen schneiden, was sie nicht gesät haben. Letztlich hat ja Jesus am Kreuz geerntet, was er nicht gesät hat. Insofern ist das Loyalitätsprinzip, das Füreinander-die-Suppe-Auslöffeln jenes Prinzip, das viel eher dem Evangelium entspricht. Freilich ist dieses Prinzip - wenn es verordnet ist - eher untauglich. Vielleicht könntest du diese beiden Prinzipien einmal in deiner Familie diskutieren. Was würde es bedeuten, wenn Mama sich auf das Prinzip von Saat und Ernte beriefe? Wo könnte man das Solidaritätsprinzip leben - so wie es für Mama normal ist?
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 26. August 2019
Stell dir einmal folgende Situation vor: Dein Kind kommt aus der Schule, knallt seinen Schulrucksack in die Ecke und schimpft: «Die Emma ist so verlogen und gemein. Alle Mädchen lädt sie zu ihrem Geburtstagsfest ein, nur mich nicht. Hinter meinem Rücken spricht sie schlecht über mich. Heute Nachmittag gehe ich nicht zur Schule. Es ist mir egal, wenn ich Ärger bekomme. Mit dieser Kuh will ich nichts mehr zu tun haben.»
Wurde dir auch schon einmal eine so geballte Ladung an Frust entgegengeschleudert? Oder wirst du im Alltag überraschend mit ähnlichen Gefühlsausbrüchen deiner Kinder konfrontiert? Dann gehen bei dir vielleicht alle inneren Alarmleuchten an und du fragst dich, wie du dein Kinder wieder beruhigen kannst. Vielleicht versuchst du es mit Strenge: «Jetzt reiss dich aber zusammen!» Oder vielleicht riskierst du es, deinem Kind eine andere Sicht schmackhaft zu machen: «Emma hat sicher nur vergessen, dich einzuladen.»
Natürlich gibt es Situationen, wo dein Kind eine andere Sicht, ein neues Ziel oder ganz praktische Hilfe braucht. Aber in den meisten Fällen würde ich dir raten, einen anderen Weg zu gehen: Versuche, das Herz deines Kindes zu spiegeln. Finde Worte für seinen Frust, seine Wut oder seine Angst. Lass zu, dass auch dein Gesicht diese Gefühle zeigt. Dein Kind wird sich verstanden fühlen und eure Bindung wird gestärkt. Du brauchst nicht zu schimpfen und zu korrigieren. Du und dein Kind, ihr bleibt gemeinsam auf der einen Seite, der Ärger auf der anderen. Und schliesslich sprichst du deinem Kind auch dein Vertrauen aus: Kinder sind meist viel kompetenter, als wir glauben.
Talk über das Monatsthema
Wurdest du auch schon mit der Aussage oder gar dem Vorwurf konfrontiert, wir, die wir vertrauenspädagogisch erziehen, nähmen den Gehorsam unserer Kinder zu wenig ernst? Zugegeben, das mag in manchen Situationen von aussen so aussehen. Doch ist es auch wirklich so? Eine Trainerin hat mir darauf eine spannende Antwort gegeben: «Ich gebe mich doch nicht nur mit dem Gehorsam zufrieden. ICH MÖCHTE MEHR! Ich möchte, dass meine Kinder mir folgen, weil sie es mir recht machen WOLLEN, also aus der Beziehung heraus dazu bewegt werden!»
Und in der Tat, Gehorsam ist relativ leicht zu erreichen: mit etwas Druck, mit der Androhung von Strafen... Dann wird das Kind aus dem Motiv der Angst vor der Strafe heraus tun, was wir sagen. Die einen oder anderen von uns kennen dies bestimmt noch aus der eigenen Kindheit. Auf der anderen Seite der Angst steht die Liebe. Und eine Beziehung, die von Liebe, Annahme und Vertrauen geprägt ist, ist es, was wir wollen. Und wir spüren es, das geht so viel tiefer! Da werden wir als Eltern herausgefordert, aber gleichzeitig auch freigesetzt. Es ist so viel schöner und fühlt sich viel natürlicher und besser an, wenn ich darauf vertraue, dass mein Kind es mir recht machen möchte und dass es sein Bestes gibt. So viel besser auf jeden Fall, als das Agieren mit Druck und Strafe (Zuckerbrot und Peitsche).
Talk über das Monatsthema
Kennst du den Satz «Geh auf dein Zimmer, bis du weisst, wie man sich hier benimmt»? Hast du dieses oder ein ähnliches Ultimatum auch schon benutzt und festgestellt, dass es sogar funktioniert? Es ist so, solche und andere Ultimaten, also angedrohte Trennung, funktionieren ganz oft. Wenn das gleiche Kind dann abends nicht alleine im Zimmer schlafen möchte, weil es einen Drachen unter dem Bett vermutet, kommen wir kaum auf die Idee, dass dieser vermutete Drache einen Zusammenhang mit der Situation des Ultimatums bzw. der Trennung haben könnte.
Und doch ist es so: Mit solchen Sätzen alarmieren wir unser Kind. Wir senden ihm die Botschaft «ich lasse dich alleine» oder «ich schicke dich von mir weg» mit. Unterschwellig sagen wir damit auch, dass das Kind nur in meiner Nähe willkommen ist, wenn es sich entsprechend benimmt. Natürlich tut das Kind in dem Moment alles, um die angedrohte Trennung zu verhindern und um die Nähe wieder herzustellen. Deshalb funktioniert es ja auch und das Kind ist plötzlich ganz brav. Der (Trennungs-)Alarm aber bleibt… Meistens ist das Kind gar nicht in der Lage, sich dessen bewusst zu sein oder gar darüber zu sprechen. Das Gehirn sucht sich dann einen anderen Grund für den Alarm, einen, über den man sprechen kann, und schon sind wir beim Monster unter dem Bett…
Wenn wir unserem Kind diesen Stress ersparen wollen, tun wir gut daran, es und seine Bedürfnisse zu verstehen und es mit klarer Kommunikation zu führen, statt mit Ultimaten unter Druck zu setzen.
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 27. Mai 2019
Die Zeit zwischen 18 und 24 Monaten ist eine Zeit, die das Leben eines Menschen stark beeinflusst. Wenn du heute oft an dir zweifelst, wenn du dich schnell abgewiesen und unverstanden fühlst, dann könnte es damit zusammenhängen, dass du gerade in dieser Zeit viel Kritik eingefahren hast. Nimm es deinen Eltern nicht übel. Ich habe es heute wieder einmal gespürt, wie es ist, wenn ein Kind dieses Alters mit der Gabel auf den Tisch einsticht, wenn es diese Schachtel leert und jene irgendwohin bringt, wo man sie nicht mehr findet, wenn es den Smoothie auf den Tisch kippt… Was wir in die Höhe tun, wird erreichbar, weil es jetzt den kleinen Schemel vom Badezimmer überallhin bringt. Seine Urteilskraft und seine Möglichkeiten entwickeln sich nicht parallel, definitiv nicht!
Ich verstehe deshalb meine Eltern, die uns in diesem Alter in ein Laufgitter sperrten. Laufgitter sind aus der Mode gekommen und Eltern, die ihren Kinder «Käfighaltung» zumuten, müssen sich einiges anhören. Ich möchte dir einfach Folgendes sagen: Nur jene sollten aufs Laufgitter verzichten, die ihrem Knirps nachher nicht dauernd die Pläne vermiesen, ihn nicht dauernd kritisieren und beschimpfen. Wer das nicht schafft, steckt sein Kind lieber ins Laufgitter. Kinder können sich gut anpassen an die Widrigkeiten des Lebens, aber ans dauernde Infragestellen, an die unablässige Botschaft: «Was machst du denn jetzt schon wieder?!», daran kann sich kein Kind gewöhnen und es soll sich auch nicht daran gewöhnen. Unsere eigenen Kinder haben die Sache mit dem Laufgitter umgekehrt: Die grossen Kinder spielten im «Gschpeer», unzugänglich für die Kleinen, und auch die Erwachsenen sparten sich ihre Freiräume aus.
Wie auch immer du es anstellst: Schütze dein Kind vor Dauerkritik. Gib ihm das Gefühl, richtig zu sein. Verstehe es, wenn es frustriert ist über seine Begrenzungen, aber erspare ihm dein Kopfschütteln und deinen Unmut über seine Taten und Pläne.
Talk über das Monatsthema
Weisst du, wie sich eine Blockade anfühlt? Wie es einem zumute ist, wenn man keinen Zugang zum Sprechen mehr hat, keinen Zugang zum Gedächtnis? Eine leichte Version davon kennen wir alle, wenn wir uns an wichtige Wörter oder Namen nicht erinnern können. Oder wenn wir vergessen haben, was wir eben noch ganz Wichtiges sagen wollten. Oft mündet es in eine peinliche Situation, wo wir froh sind, wenn wir mit vertrauten Menschen zusammen sind oder mindestens mit solchen, die Verständnis zeigen. Wie fühlt sich das für Kinder an? Was macht es mit ihnen? Eine Gruppe von Kindern - auch wenn sie dereinst erwachsen sind - erlebt das regelmässig beim Lesen und Schreiben: Die Legastheniker. D. war so ein Kind. Obwohl es dreissig Jahre her ist, sehe ich ihn klar vor mir. Seine Schrift sah aus wie ein kleinkindliches Gekritzel und beim Lesen steckte er oft bei vermeintlich einfachen Wörtern fest. Er vermied es folglich, zu lesen und zu schreiben, war aber sonst ein aufgeweckter Schüler. Eine Kollegin, selber Davis-Therapeutin, gab mir dessen Buch, das mich faszinierte: «Legasthenie als Talentsignal». Ich kannte Legasthenie vor allem aus meiner Primarlehrerzeit. Spezielle Therapeutinnen versuchten zu helfen - wie bei D. oft mit wenig Erfolg. Das Buch weckte neue Hoffnung für D. Tatsächlich: Nach einer einzigen Therapiewoche hatte sich seine Schrift sowie seine Lesefertigkeit spektakulär verbessert. Er war gewissermassen geheilt - mehr als das. Er hatte seine besondere Fähigkeit der Desorientierung, wie Davis sie nennt, erhalten, hatte nun aber die Kontrolle darüber erlangt. Ein Raumorientierungsgefühl, das jedem von uns Normalos überlegen ist.
Kürzlich habe ich Ronald Davis’ neues Buch «ADHS und Dyskalkulie als Talentsignal» gelesen - gerade rechtzeitig auf unsere Frühlingstagung hin, wo ich darüber sprechen will, wie unser Erziehungsverhalten mit einer gewissen Regelmässigkeit Perfektionisten und Narzissten hervorbringt. Dies umso mehr bei jenen Kindern, die uns Mühe machen. Wo aber liegt das besondere Talent der AD(H)S-Menschen? Multitasking!
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 25. März 2019
«Alle spielen das - ich bin sonst ein Aussenseiter!» Mit dieser Argumentation bist du vielleicht auch schon konfrontiert gewesen. Vielleicht waren es nicht PC-Spiele, sondern die Marken der Kleider, die die Kinder bewahren sollten, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.
Zwei Dinge gehen mir dabei durch den Kopf:
Es wäre schön, wenn unsere Kinder die innere Kraft hätten, diesem Konformitätsdruck zu begegnen. Wie aber finden sie diese Kraft? Indem wir ihnen das Heldentum als Pflicht auferlegen? «Wir als Christen tun das nicht, bekenne dich zu unseren Werten.» Ich denke, es wäre ehrlicher zu sagen: «Wir als Eltern wollen das nicht. Du darfst dich ruhig auf uns berufen und bekennen, dass du dieses Game auch gerne spielen würdest, wenn du dürftest.» Vielleicht werden unsere Kinder sich viel lieber hinter uns stellen, wenn sie darin frei sind. Wenn sie dadurch in die Lage kämen, anstatt dem Druck der Kollegen und der Eltern auszuweichen, aus Loyalität zu handeln. Manchmal müssen wir Grenzen setzen und nein sagen, aber was Kinder weiterbringt, ist ihre Freiheit, das Gute und Wahre zu wählen.
Und das zweite, vergib mir, wenn ich es immer wieder erwähne: Wir sollten auf die Motive unserer Kinder achten. Sie sind wichtiger als ihre Taten. Glaubst du das auch?
Verabschiedung Beat Etter
Livesendung vom 25. Februar 2019
Aufgrund technischer Probleme fand die Livesendung nicht statt.
Viele Kinder äussern irgendwann den Wunsch, ein Musikinstrument zu erlernen. Eltern melden sie dann für den Unterricht an und übernehmen die Verantwortung, dass das Kind täglich 10, 20, 30… Minuten übt. Oft sehen wir, dass den Kindern nach kurzer Zeit die Freude abhanden kommt. Es entsteht ein täglicher Kampf um die Übungsminuten, oft mit unschönen Argumenten: «Ich bezahle so viel Geld für den Unterricht, da erwarte ich aber, dass du auch täglich 20 Minuten übst!» So rufen wir unverzüglich den Gegenwillen auf den Plan. Das heisst, der äussere Druck wird in diesem Moment grösser als der innere Wunsch, zu üben, und wir finden uns in einem mühsamen Machtkampf wieder, wo es eigentlich nur Verlierer gibt.
Wie viel schöner wäre es aber doch, wenn ein Kind mit Freude bei der Sache sein könnte und auch einmal freiwillig auf seinem Instrument spielte - gerne auch länger als die empfohlenen 20 Minuten. Wie erreichen wir das?
Kein Druck, kein «Üben», sondern «Spielen» - dann, wenn das Kind Lust verspürt und mit Freude daran geht, wenn es sich im Spiel vertiefen und verlieren kann. Kein Üben, um die Mutter oder die Lehrerin zufriedenzustellen, sondern aus Freude an der Sache oder aber (später) auch einfach, weil es ein lohnendes Ziel vor Augen hat. Wie klingt das für dich?
Wer diesen Weg wählt, dem kann es passieren, dass das Kind erstmal gar nichts mehr macht. Aber selbst dann wird es in der Musikstunde vorwärts kommen. Und irgendwann kommt der Moment, wo fröhliche Flöten- oder Geigentöne erklingen. Einfach so…
Lehrpersonen, zu denen das Kind eine Beziehung aufbauen kann und die als Coaches den Kindern zur Seite stehen und sie motivieren, die aber keinen Druck ausüben, sind eine grosse Hilfe. Das Musizieren soll nicht ihr Bedürfnis sein, sondern das Bedürfnis des Kindes.
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 28. Januar 2019
An dieser Aussage ist im Grossen und Ganzen ja nichts Besonderes. Wenn wir sie aus dem Mund eines 16-jährigen Teenagers hören, aber irgendwie doch. Gerade die Weihnachtszeit ist voll von solchen «weichen» Dingen, die unsere Gefühle ansprechen, und ich finde das einfach super.
Unsere Kinder und Teenager brauchen ihre Gefühle und Emotionen, um reifen zu können. Sie brauchen weiche Herzen, Herzen, die verletzlich sind, weil es gerade diese verletzlichen Gefühle wie das Fühlen von Erfüllung, aber auch von Vergeblichkeit sind, die sie zur Reifung bewegen und auch zur viel diskutierten Resilienz.
Im rauen Schul- und Arbeitsalltag muss sich ein Kinderherz schützen oder panzern, wie wir das auch nennen. Das ist gut und wichtig so. Doch genauso wichtig ist es, dass das Herz zu Hause wieder weich werden kann. Dies ist möglich, wenn das Zuhause ein sicherer Ort ist und die Beziehung zu den Eltern von bedingungsloser Annahme geprägt ist. Ein Ort, wo sie nicht chronisch und im grossen Ausmass verletzt werden. Und wenn das so ist, kann auch ein sonst cooler Teenager sagen, dass er sich auf die schöne und gemütliche Weihnachtszeit freut. Und jeder Teenager, der so etwas sagen kann, ist ein Grund zur Freude, weil es eben zeigt, dass er in Kontakt mit seinen Gefühlen ist.
Ausserdem ist eine Beziehung zu einem fürsorglichen Erwachsenen der allerbeste Schutz vor Verletzungen, die von aussen kommen können. Eine Join-up-Beziehung ist das Beste, was wir für unsere Kinder tun können, und die allerbeste Voraussetzung für Reifung.
Natürlich sind diese Gefühle und Emotionen das ganze Jahr hindurch essenziell wichtig. Doch vielleicht kann gerade die Weihnachtszeit mit all ihren Besonderheiten eine Zeit sein, wo wir uns das besonders bewusst machen. Für oben erwähnten Teenager ist das auf jeden Fall so und das ist gut so.
Talk über das Monatsthema
Gehörst du zu den glücklichen Mamis, die sich vollamtlich um die Familie kümmern dürfen? Dann kennst du bestimmt auch die problematischen Seiten dieses wunderbaren Berufes: Vielleicht fühlst du dich inmitten einer grossen Kinderschar - besonders, wenn die Kinder noch klein sind - sehr einsam. Der Austausch mit anderen Erwachsenen ist selten, und wenn er stattfindet, geht er zulasten der sowieso schon knappen Zeit. Vielleicht leidest du auch darunter, von deiner Umwelt nicht richtig wahrgenommen zu werden. Oder du empfindest deine Aufgabe zeitweise - obwohl sie sehr grundlegend und äusserst wichtig ist - als banal und intellektuell wenig herausfordernd bzw. erfüllend. Dein Mann erzählt von seinen Kick-off-Meetings und seinen hochkomplexen Problemstellungen im Beruf, während du dir Gedanken darüber machst, wie man die Pizza platzsparender in die Lunchbox der Kinder packen kann :-). Vielleicht rundet eine Portion Frust über das Nichterreichen deiner selbst gesteckten Haushaltsziele deinen Alltag ab?!
Möglicherweise gehörst du aber auch zu jenen Müttern, die sozial gut eingebettet sind und solche Probleme weder haben noch nachvollziehen können. Oder du erfüllst nebst der Familie noch andere Aufgaben, die dich erfüllen.
Falls aber nicht, schlage ich dir vor, den Begriff «Bindungsdorf» auch einmal von dieser Seite her zu beleuchten. (Normalerweise verstehen wir ja darunter die Idee, dass deine Kinder deine Freunde kennen und mögen sollten - und umgekehrt…)
In letzter Zeit höre ich immer häufiger von Frauen, die «artgerechtes Putzen» praktizieren. Sie treffen sich abwechselnd zur Hausarbeit - mal in jener, mal in der anderen Wohnung. Sie berichten mir begeistert, wie viel effizienter und leichter die Arbeit zu zweit oder zusammen mit der ganzen Kinderschar von der Hand gehe und wie kostbar die Gespräche seien - ganz ohne das Gefühl, eigentlich keine Zeit zum Austausch zu haben. Auch umfangreichere oder strengere Arbeiten gehen flott von der Hand.
Allerdings muss ich dich warnen. Es gibt eine Hürde zu nehmen: Du musst dich mit deiner Scham über allenfalls vorhandene «dunkle Ecken» in deinem Haushalt auseinandersetzen. Ich möchte dich dennoch ermutigen, es sei befreiend...
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 26. November 2018
Im Moment bin ich in der Endphase der Vorbereitung für einen Vortrag in Schaffhausen mit dem Titel «Das befreite Gewissen». Wenn du das liest, wird der Vortrag schon vorbei sein. Wenn du gerne dabei gewesen wärest, dann schaue im Shop nach, ob es gelungen ist, meine Gedanken rüberzubringen…
Hier kurz ein Erlebnis, das mich in diesem Zusammenhang beschäftigt. Die Frage im Titel hat es dir vielleicht schon gezeigt: Du spürst dein Gewissen nur dann, wenn du in Gefahr bist, ein schlechtes Gewissen zu haben, bzw. wenn dir jemand ein schlechtes Gewissen macht. Das gute Gewissen an sich spüren wir gar nicht. Oder doch? Es müsste das gute Lebensgefühl eines Menschen sein, der im Join-up mit den Mitmenschen ist, auf deren Vergebung vertraut und an einen liebenden, fürsorglichen Gott glaubt, dem er nachfolgt, ohne Angst zu haben, etwas falsch zu machen, was ihn um die Gunst Gottes bringen könnte.
Ein solcher Mensch ist vielleicht mein ältester Enkel. Er musste sich diese Woche in unserem Auto übergeben und schaffte es trotz seiner 14 Jahre nicht, den Sitz und die stoffbezogene Türe zu verschonen. Das Besondere: Ich stellte kein schlechtes Gewissen bei ihm fest, nur sein eigenes Leiden und später das Mitleid mit uns, dass wir jetzt ein übel riechendes Auto haben. Der Impuls stieg in mir auf, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, nachdem mich dessen Fehlen irritierte. Hätte ich das tun sollen? Was meinst du? Diskutiere mit uns darüber am nächsten Montag an der Livesendung.
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 29. Oktober 2018
Wir haben uns letzten Monat damit beschäftigt, wie wichtig es ist, unseren Kindern echtes Spiel zu ermöglichen. Du erinnerst dich vielleicht noch an Angelas Bericht über die Familienferien in Schweden. Schule und Freizeitangebote buhlen mit den Medien um die wertvolle Zeit unserer Kinder. Oft bleibt dann fürs eigentliche Spiel (zu) wenig Zeit. Aber es gibt noch einen wichtigen inneren Feind des echten Spiels, nämlich die soziale Situation eines Kindes.
Kinder, die in Beziehungskonflikten stecken, sei es mit den Eltern, den Lehrkräften oder beiden, haben schlechte Karten, sich in wirkliches Spiel zu versenken. Sie werden eher nach Ablenkung durch Unterhaltung rufen. Aber selbst dort, wo es Kindern grundsätzlich gut geht und Raum für Kreativität und Engagement da wäre, steht oft die soziale Situation im Wege. Gehen wir zusammen auf einen Spielplatz. Geschieht hier echtes Spiel? Vielleicht im Sandhaufen, falls dort nicht ein Streit um die Werkzeuge oder um den «Bauplatz» vorherrscht. Viele andere Tätigkeiten bestehen im passiven Sich-bewegen-Lassen durch Schaukeln, Rutschbahnen und dergleichen. Auch den Bewegungsangeboten fehlt oft jener Aspekt, der beim Klettern auf einen Baum oder beim Klettern im Gelände den Reiz ausmacht: Das mutige Überwinden von Angst. Moderne Spielplätze tragen diesem Gedanken Rechnung. Sie erlauben wirkliches Spiel. Wenn viele Kinder dennoch nicht ins kreative Spiel finden und so das Eigentliche verpassen, liegt es vielleicht an anderen Kindern oder Erwachsenen, die ihnen im Weg stehen. Worin besteht es denn, das Eigentliche? Dass ein Kind aus Freude an der Sache selbst unterwegs ist und nicht deshalb, weil es anderen etwas beweisen will oder muss oder verhindern will, beschämt zu werden. Dieses eigentliche Spiel geschieht oft, wenn das Kind alleine ist, seltener mit guten Freunden, die eben ein «eingespieltes» Team sind.
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 24.09.2018
Wenn wir kleinen Kindern zuschauen, wie sie in ein Spiel vertieft sind, fühlt sich das in der Regel gut und richtig an. Wir sind uns wohl alle einig, dass Spielen für Kinder etwas Wichtiges ist. Doch wie ist es mit grösseren Kindern, Teenagern, Jugendlichen…? Vor einigen Jahren verbrachten wir einige Ferientage in einem schwedischen Nationalpark. Unsere Kinder (damals 14, 12 und 9) spielten stundenlang im Wald und wir Eltern staunten echt darüber, wie sie sich noch so ins Spiel vertiefen konnten. Noch heute erinnern wir uns gerne an diese ausserordentlich friedlichen Ferien.
Vor einiger Zeit begann ich mich vertiefter mit dem Thema Spielen auseinanderzusetzen und jene Tage im Nationalpark Tiveden wurden zu einem Schlüssel für mich.
Was machte es aus, dass die Kinder dort so ins Spiel finden konnten? Sie hatten viel (bildschirmfreie!) Zeit, einen sicheren Rahmen, Freiheit, Vergnügen und Sicherheit. Ihr Spiel war Spiel, keine Realität. Es kam aus ihnen heraus und es hatte nichts mit Arbeit zu tun. Das sind die Punkte, die eben echtes Spiel ausmachen.
In diesem Jahr fragte ich mich im Voraus, ob wir auch wieder solche Momente erleben würden. Und tatsächlich, es gab sie! Weitsprung im Sand, Steinhäuschen bauen beim Wandern, ein völlig chaotisches und lustiges Wasserballspiel usw. Was es dazu brauchte? Zeit, Natur und manchmal mitspielende Eltern.
Wir spürten, wie Spannungen abgebaut wurden. Auf diese Weise konnten Erlebnisse verarbeitet und Aggressionen herausgelassen werden. Emotionen kamen ins Fliessen, Kreativität entstand.
Spielen, echtes Spielen tut gut - auch uns Erwachsenen. Und ich wünsche unseren Kindern, Teenagern, Jugendlichen und auch uns Erwachsenen immer wieder Momente, in denen wir abtauchen und ins Spiel finden können.
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 27. August 2018
Es berührt mich immer ein bisschen zwiespältig, wenn ich eine solche Aussage höre. Es ist doch gut, wenn Eltern sich bemühen, ihrem Kind gerecht zu werden - oder? Sicher, aber für Kinder gibt es etwas noch Wichtigeres, als ob die Eltern immer richtig handeln: Sie brauchen Eltern, die mit ihren Kindern und mit sich selber einen entspannten - einen vertrauensvollen und vertrauten - Umgang haben. Kinder sollen sehen, hören und fühlen, wie es ihren Eltern geht - nicht so sehr, wenn sie traurig sind (die Kinder sollen ja nicht ihre Tröster sein), aber sicher, wenn sie frustriert sind. Frust auszudrücken, ohne aggressiv gegen Menschen zu werden, ist eine schöne Zielsetzung, aber Kinder haben volles Verständnis dafür, wenn das nicht immer gelingt. Mit der Erziehung ist es wie mit der Hygiene: Das richtige Mass ist nicht bei der Sauerei, aber auch nicht bei der Sterilität. Wenn wir gesund sein wollen, dürfen wir nicht im Reinraum leben. Unser Immunsystem braucht gewisse Herausforderungen. Genauso ist es mit den menschlichen Unzulänglichkeiten. Kinder von perfekten Eltern würden ganz viele wichtige Dinge nicht lernen, nämlich mit dem Versagen anderer umzugehen, Ungerechtigkeiten zu ertragen usw. Aber keine Angst, du darfst dich entspannen. Die Gefahr in dieser Ecke ist eher klein. Viel eher neigen wir zu Selbstvorwürfen und meist in der Folge zu Vorwürfen gegenüber unseren Lieben, wenn wir etwas verbockt haben.
Obiger Titel war vor ein paar Jahren ein Thema im Forum und kam aus meinem tiefsten Herzen. Heute weiss ich: Wir waren damals ziemlich blauäugig, als wir unserer 12-jährigen Tochter ein Smartphone in die Hand drückten. Wir wussten noch nichts davon, dass der vernünftige Umgang mit einem Handy mit Reife zu tun hat, und auch nicht, dass Medienmündigkeit nicht durch Übung und Umgang mit Medien, sondern vielmehr mit breiten, praktischen Erfahrungen - sprich: solchen in der realen Welt - erreicht wird. Dies sind die beiden Dinge, auf die es wirklich ankommt: persönliche Reife und Medienmündigkeit.
Reife entsteht bekanntlich in einer tiefen Vertrauensbeziehung zu Eltern oder anderen Bezugspersonen. Reife junge Erwachsene sind in der Lage, ihre Gefühle zu mischen und überlegte Entscheidungen zu treffen. Sie können mit Frustration verträglich umgehen usw.
Medienmündigkeit bedeutet nicht, dass man Medien einfach nutzen kann. (Das geht ja heute unheimlich schnell und ist keine grosse Leistung mehr…) Vielmehr bedeutet es, einen selbstbestimmten und verantwortlichen Umgang zu finden, der immer weniger Schutz und Anleitung von aussen benötigt.
Auf dem Weg dorthin tun wir als Eltern gut daran, wenn wir unsere Kinder und Teenager begleiten, sie führen und zu ihrer eigenen Sicherheit auch Grenzen setzen, so wie wir dies auch in anderen Bereichen tun. Wer lässt sein Kind schon uneingeschränkt am Strassenverkehr teilnehmen? Und, obwohl ich eine absolute Schokoladen-Liebhaberin bin, habe ich den Konsum bei meinen Kindern - und bei mir ☺ - vorsorglich eingeschränkt.
Medien mit Schokolade zu vergleichen, hat was… Sie sind genial, sie erleichtern und versüssen uns das Leben. Aber zu viel und zur falschen Zeit sind sie ungesund!
Talk über das Monatsthema
Livesendung vom 25. Juni 2018