"Mama, kannst du mir bitte bei diesen Aufgaben helfen?" - "Du kannst das selber!", sagt Joana zu ihrer dreizehnjährigen Tochter und lässt sie über ihren Matheaufgaben brüten. Joana wird ihr dann schon helfen, wenn sie es alleine nicht schafft. Alles ok, oder? Nun, etwas hat Joana nicht bedacht. Eigentlich muss man kein Kind zur Selbständigkeit drängen. Kinder wollen alles selber machen, was sie sich zutrauen. Selbstbewusst wird man kaum unter dem Zwang, etwas selber machen zu müssen, obwohl es da Ausnahmen geben mag. Aus vertrauenspädagogischer Sicht geht es darum, die Beziehung zu den Kindern zu vertiefen. Du bist es, an dem sich dein Kind orientieren soll, deine Hilfe soll es suchen, damit es nicht in Versuchung kommt, sich unreif und unsicher von dir zu lösen. Wenn sich unreife Kinder vorzeitig von ihren Eltern lösen (müssen), sind sie in grosser Gefahr, sich an andere Kinder zu binden, die in der gleichen Lage sind. Unreife orientieren sich dann an Unreifen.
Liebe Joana, vielleicht würde deine Tochter ja wirklich ein bisschen schneller lernen, Mathe-Übungen selbständig anzupacken. Vielleicht gibt sie wirklich nicht alles. Dennoch rate ich dir, jede Gelegenheit zu nutzen, deinem Kind zu helfen, wenn es dich darum bittet (ich meine: "bittet"!). Das festigt die Hierarchie zwischen euch. Das gibt dir Gelegenheit, fürsorglich zu sein und im Kind ebendiese Art der Hierarchie zu verankern. Das soll dich ja nicht hindern zu fragen: "Meinst du, du schaffst die nächste Übung alleine?"
Noch eine Anmerkung: Aus meiner Sicht ist das Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie kein zentrales Anliegen im Reich Gottes. Es geht eigentlich um Reife, nicht so sehr um Selbständigkeit. Hilfe annehmen, ohne sich dabei schlecht und minderwertig zu fühlen, ist geradezu eine christliche Tugend. (Letztlich besteht ja die Sünde an sich gerade darin, von Gott unabhängig zu sein.) Diese Tugend fördern kannst du nur, wenn du dich verabschiedest von Gedanken des Misstrauens wie diesem: "Mein Kind könnte es schon, es ist nur zu faul zum Selber-Denken." Wie gesagt, es mag da und dort so sein, aber es ist nicht ok, das einem Kind zu unterstellen.